Die Busfahrt
Vorne links war sein Platz im Leben, hinten rechts im Bus.
Mit seinen Fingern umklammerte er seinen X-IUM WCS NIS 1, der für 180 Franken
mit einem Diamantschliff behandelt und danach mit rotem, weissen und grünen Wax
und einem anderen der Giftklasse 3 getränkt und wieder ausgebürstet wurde. Sein
rechter Zeh schmerzte ein wenig, dies aber nicht etwa weil der ACTIVE 8X SK
drückte, sondern weil die Spitze des LEKI SUPER SHARK wegen fehlender
Beinfreiheit auf eben diesem Zeh ruhte.
Die Handschuhe CRAFT ELITE GLOVE hielt er mit der anderen
Hand fest und der Wärmeschutz aus doppelt verleimter Gore-Tex Faser wartete in
der dünnen Effektentasche auf ihren Einsatz. Für jedermann sichtbar, erstrahlte
die Startnummer 21245 auf seiner Brust. Er war Teilnehmer der Elite C Kategorie
und er war stolz darauf.
Jaques Gonfler war bereit, bereit für den Engadin Ski
Marathon 2012.
Im Bus wurde geredet, abenteuerliche Waxtipps machten die
Runde und Bananen wurden verspeist, als handelte es sich beim Postauto um das
Affenkäfig vom Zürcher Zoo. Obwohl das Postauto mit einer grosszügigen Skibox
ausgerüstet war, verstauten nur einige Greenhörner ihre wertvollen Latten im
Aussenbereich. Zuviel Arbeit steckte in ihnen, zu viel Leid wäre damit
verbunden, wenn nur etwas Strassensalz auf die blankpolierten Beläge käme.
Die Scheiben des Buses waren angelaufen. In den Mägen der
Läufer wurden die Müsli verdaut, die später kiloweise im Verdauungstrakt
dahingarten und im Laufe des Tages noch für manch einen unappetitlichen Furz
verantwortlich sein würden.
Maloja kam näher, die Spannung stieg. Noch 90 Minuten bis
zum Start des Engadin Ski Marathons.
Im Startgelände

Die vielen hundert Läufer, die sich hinter ihm aufreihten,
trösteten ihn über die klammen Zehen hinweg. Es hatte sich gelohnt, das frühe
Einstehen. Die Kerle hinter ihm musste er wenigstens nicht mehr überholen.
Noch zehn Minuten bis zum Start der Elite C. Mit einem
lauten Knall wurden die ersten zwei Kategorien auf die Reise geschickt, JoBo
musste sich noch gedulden. In weniger als 100 Minuten wird der erste das
Zielband durchtrennen. Mit viel Glück und dank dem intensiven Training, würde
JoBo dann La Punt erreicht haben.
Unruhe machte sich breit im Feld hinter ihm. Die
Skireservierer liefen gut aufgewärmt zwischen den korrekt eingestandenen
Läufern hindurch und suchten ihre am Vorabend hingelegten Skis. JoBo
beobachtete ein älteres Semester, das eine ausgetragene Windjacke sorglos in
die Ecke warf und die alten gegen die neuen Skis austauschte. War das nicht… –
richtig! – das war Jaques Gonfler, seit drei Jahren pensioniert, offensichtlich
immer noch ein grosser Egoist und mindestens 15 Kilogramm leichter.
«Dem werde ich es heute zeigen!»
Der Start
Ein lauter Knall, das Startband schoss nach oben und weitere
1500 Läufer wurden auf die Strecke geschickt.
Gonfler zog mit kräftigen Doppelstockstössen davon. Der
Läufer hinter ihm fluchte. Offensichtlich hat er etwas von Gonflers Stock
abbekommen. «Selber Schuld!», dachte Gonfler und war froh, dass er dem
hektischen Startprozedere ohne Materialschaden entkommen ist. Er lief ganz
rechts auf der eisigen Spur, die um einen Zacken schneller war, als die weiter
links. Vor ihm lief eine junge Dame in schneeweissem und nicht ganz
blickdichtem Dress. Elegant beschleunigte sie im 2-1, fand einen lockeren
Rhythmus und hatte zu Gonflers Freude eine ausgezeichnete Figur. Er erkor diese
Gazelle als seinen persönlichen Schrittmacher und klebte sich förmlich an ihr
Hinterteil. «Ein schöner Arsch», dachte er bei Tempo 30. Gonfler war einen
Moment unachtsam, rutschte auf einer Eisplatte aus und wurde Sekunden später
zum Fundament eines aus mindestens fünf Langläufern bestehenden Menschenhügels.
Rundum wurde geflucht. Kraftwörter machten die Runde und das Knäuel aus Mensch,
Ski und Stock wurde entwirrt. Gonfler blutete aus der Nase. Aber das war nicht sein
grösstes Problem. Einer der beiden LEKI SUPER SHARK, gekauft für 398 Franken,
war nur noch halb so lang. Auch das wäre verkraftbar gewesen, denn in weniger
als einem Kilometer kam eine Station, bei der er defektes Material austauschen
konnte. Was ihn wirklich störte war das Grinsen einer Person, die er schon vor
Jahren aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte. Dieser JoBo zog locker an ihm
vorbei und wünschte ihm viel Glück.
KM 5 – Sils Maria

Gonfler erhielt kurz nach dem Startgelände einen
Ersatzstock. Da leider nur wenige Menschen so kleingewachsen waren wie er, war
das viel zu schwere Teil zu allem Elend auch noch zu viel lang. Er konnte seine
ausgefeilte Technik nicht ausspielen und musste mit dem zu langen Stock auf die
Seite ausweichen, was auf den letzten drei Kilometern mindestens sechs Läufern
zum Verhängnis wurde. Doch das war ihm ziemlich egal. Der Marathon war Kampf,
der Marathon war Krieg!
Beim Strassenübergang in Sils – gleich hinter der KM 5
Tafel, sah er JoBo auf die Stöcke gestützt tief durchatmen. «Les jeunes sont
deja fatigué!» Jetzt lachte Gonfler und er überholte JoBo mit Genuss.
KM 10 – Surlej-Silvaplana
Bei Kilometer 10 wurden die Teilnehmer daran erinnert, dass
der Lauf nicht nur auf ebenem Terrain stattfand. Die Steigung nach Surlej war
im doppelten Sinne brutal. Nicht nur der schnelle Rhythmus wurde gebrochen,
auch die Schneebeschaffenheit veränderte sich schlagartig. Die schnelle Loipe
wurde langsamer.
JoBo fand dank eines Red Bulls, das ihm ein Zuschauer zusteckte,
wieder zu fast alter Frische zurück. Er lief kräfteschonend über die Seen
Richtung Surlej und kam erstaunlich gut voran. Er glaubte ein paar Positionen
weiter vorne den Anzug von Gonfler zu erkennen, war sich aber nicht ganz
sicher. Im Moment hatte anderes Priorität. Nur keine zweite Krise, nur den
Rhythmus nicht verlieren.
Gonfler blickte nach rechts. Da war er wieder der junge Copilot.
Dieser JoBo schien zäher als erwartet. Ein Spurwechsel war unmöglich, die
Teilnehmerschlange näherte sich der Schanze bei St. Moritz und dieser kurze
Anstieg führte unweigerlich zum Stau. Doch Gonfler wusste sich zu helfen…
KM 12 –
Schanzenaufstieg St, Moritz

KM 19 –
Stazerwaldabfahrt
Eigentlich kein Problem diese Abfahrt. Dank des immer besser
werdenden Materials konnte jeder halbwegs talentierte Skiläufer diese
Schussfahrt mit Links meistern. Der Schnee war weich, die Bäume mit alten
Matratzen gepolstert. Doch hie und da gab es Teilnehmer, die unkonzentriert,
müde oder beides waren und im dümmsten Moment stürzten. Sehr zum Gaudi der
zahlreichen Zuschauer und des Speakers, der jeden noch so kleinen Sturz mit
seinen Sprüchen zum Ereignis machte. Das Humorfestival war nichts dagegen.

KM 21 – Pontresina
Ein Arzt nahm Gonfler aus dem Rennen. So weiterzulaufen war
aus medizinischer Sicht unverantwortlich. Gonfler wurde trotz heftigem Protest
in das Sanitätszelt gebracht und verarztet. Da ein Verdacht auf eine
Hirnerschütterung bestand, wurde Gonfler die Startnummer abgenommen und erste
Untersuchungen durchgeführt. Eine durchaus attraktive Krankenschwester nahm
seinen Puls und verabreichte ihm ein starkes Schmerzmittel. «Er solle hier
mindestens eine Stunde liegen bleiben», meinte der Arzt. Gonfler dachte nicht
im Traum daran.
KM35 – Madulain
JoBo lief wie in Trance. Jeder Schritt schmerzte, jeder
Stockeinsatz war eine Qual. Der Schnee wurde weicher und die Sonne brannte
unbarmherzig auf die Teilnehmer herunter. Wo wohl Gonfler war, fragte sich JoBo
und lief wie im Rausch weiter.
KM 40 – Golanhöhen
Die Stimme des Speaker war gut zu hören. Jeden Einlauf
kommentierte er, als wäre derjenige gerade Olympiasieger geworden. JoBo fehlten
noch zwei Kilometer, bis er endlich seinen Namen zu hören kriegte.
«Und jetzt im Ziel Jaques Gonfler aus Villars. Heja, heja.»
Der Alte hatte es also geschafft und ihn abgehängt. Diese
Tatsache demoralisierte JoBo und raubte ihm die letzten Reserven. Mit
allerletzter Kraft rettete er sich über die Ziellinie und brach zusammen.
KM 42 – das Ziel
«Und jetzt im Ziel Johannes Bohnenblust aus Eggiswil. Heja,
heja.»
Seine Beine schmerzten, die Arme brannten. Um ein Haar hätte
es sich vor Erschöpfung übergeben. Eine helfende Hand begleitete ihn aus dem
Zielgelände und führte den erschöpften JoBo zu einer Sitzgelegenheit. Er gab
eine himmeltraurige Figur ab, das war er sich bewusst. Zu allem Elend kam ihm auch
noch der grinsende Gonfler entgegen. Etwas übel zugerichtet, aber bestens
erholt.
Man gratulierte sich sportlich und Gonfler genoss seinen
Triumpf.
Vier Stunden später
Endlich im Hotelzimmer. Endlich eine Dusche. JoBo legte sich
vorsichtig auf das Bett. Jeder Knochen schmerzte, jede Sehne spannte. Er
startete seinen Laptop auf und suchte unter den Rangierten seinen Namen. Rang
3451 – enttäuschend. Die Qualifikation für die Elite C im nächsten Jahr hatte
er deutlich verpasst und die Zeit war blamabel. Er suchte nach den Resultaten
seiner Freunden und Personen aus seinem Dorf. Als letzten gab er den Namen
Gonfler ein. Dieser fehlte – ein Computerproblem?
Er surfte durch die Seiten des Veranstalters und betrachtete
Bilder vom Tag. Er bewunderte die Sieger und bemitleidete die letzten, die mehr
als doppelt solange benötigten wie er.
Als er den Computer ausschalten wollte, bemerkte er einen
Link mit dem Titel «Disqualifikationen». Aus Neugierde klickte JoBo auf den
Link.
Zuoberst auf der Linie stand der Name Gonfler.
«Hat eine Teilstrecke mit dem Auto absolviert», stand hinter
Gonflers Namen. «Gesperrt bis 2015», eine Zeile darunter.
JoBo war froh, dass es im nächsten Jahr nicht zur Revanche
kam. Diesen Wahnsinn will er sich nicht noch einmal antun!
Klasse geschrieben - Danke für die tolle Geschichte !
AntwortenLöschenObwohl die meisten Autoren ja autobiografische Erlebnisse vehement verneinen, schimmert hier vielleicht doch Selbsterlebtes mit? Ein ganz klein wenig zumindest...?
AntwortenLöschenM aka @Timezonedriver
Wenns vor dem PC brüllt und lacht, hat nicht JoBo, sondern ich mir vor Grölen in die Hose gemacht.
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