Samstag, 10. März 2012

Das Duell


Die Busfahrt
Vorne links war sein Platz im Leben, hinten rechts im Bus. Mit seinen Fingern umklammerte er seinen X-IUM WCS NIS 1, der für 180 Franken mit einem Diamantschliff behandelt und danach mit rotem, weissen und grünen Wax und einem anderen der Giftklasse 3 getränkt und wieder ausgebürstet wurde. Sein rechter Zeh schmerzte ein wenig, dies aber nicht etwa weil der ACTIVE 8X SK drückte, sondern weil die Spitze des LEKI SUPER SHARK wegen fehlender Beinfreiheit auf eben diesem Zeh ruhte.
Die Handschuhe CRAFT ELITE GLOVE hielt er mit der anderen Hand fest und der Wärmeschutz aus doppelt verleimter Gore-Tex Faser wartete in der dünnen Effektentasche auf ihren Einsatz. Für jedermann sichtbar, erstrahlte die Startnummer 21245 auf seiner Brust. Er war Teilnehmer der Elite C Kategorie und er war stolz darauf.
Jaques Gonfler war bereit, bereit für den Engadin Ski Marathon 2012.

Im Bus wurde geredet, abenteuerliche Waxtipps machten die Runde und Bananen wurden verspeist, als handelte es sich beim Postauto um das Affenkäfig vom Zürcher Zoo. Obwohl das Postauto mit einer grosszügigen Skibox ausgerüstet war, verstauten nur einige Greenhörner ihre wertvollen Latten im Aussenbereich. Zuviel Arbeit steckte in ihnen, zu viel Leid wäre damit verbunden, wenn nur etwas Strassensalz auf die blankpolierten Beläge käme.

Die Scheiben des Buses waren angelaufen. In den Mägen der Läufer wurden die Müsli verdaut, die später kiloweise im Verdauungstrakt dahingarten und im Laufe des Tages noch für manch einen unappetitlichen Furz verantwortlich sein würden.

Maloja kam näher, die Spannung stieg. Noch 90 Minuten bis zum Start des Engadin Ski Marathons.

Im Startgelände
JoBo hüpfte von einem Fuss auf den anderen. Es war kalt an diesem frühen Morgen im Engadin. Obwohl es noch über 50 Minuten dauerte, bis der Kanonenschuss die ersten Teilnehmer auf die Loipe schickte, stand er bereits im dünnen Adidas Dress im Startfeld und fror wie ein Flight-Attendant während eines Nachtflugs. Das stete Hüpfen gab nicht wirklich warm, beruhigte aber seine Nerven. Trotz frühem Einstehen, stand er nur in der fünften Reihe. Vor ihm reihten sich hunderte von alten Langlauflatten auf, die Teilnehmer trotz Verbot am Vorabend dort platzierten. Er hasste diese Platzreservierer am Engadiner genauso, wie die am Sandstrand in Spanien. Letztendlich war es Betrug, doch denen würde er es sportlich zurückzahlen.

Die vielen hundert Läufer, die sich hinter ihm aufreihten, trösteten ihn über die klammen Zehen hinweg. Es hatte sich gelohnt, das frühe Einstehen. Die Kerle hinter ihm musste er wenigstens nicht mehr überholen.
Noch zehn Minuten bis zum Start der Elite C. Mit einem lauten Knall wurden die ersten zwei Kategorien auf die Reise geschickt, JoBo musste sich noch gedulden. In weniger als 100 Minuten wird der erste das Zielband durchtrennen. Mit viel Glück und dank dem intensiven Training, würde JoBo dann La Punt erreicht haben.
Unruhe machte sich breit im Feld hinter ihm. Die Skireservierer liefen gut aufgewärmt zwischen den korrekt eingestandenen Läufern hindurch und suchten ihre am Vorabend hingelegten Skis. JoBo beobachtete ein älteres Semester, das eine ausgetragene Windjacke sorglos in die Ecke warf und die alten gegen die neuen Skis austauschte. War das nicht… – richtig! – das war Jaques Gonfler, seit drei Jahren pensioniert, offensichtlich immer noch ein grosser Egoist und mindestens 15 Kilogramm leichter.
«Dem werde ich es heute zeigen!»

Der Start
Ein lauter Knall, das Startband schoss nach oben und weitere 1500 Läufer wurden auf die Strecke geschickt.

Gonfler zog mit kräftigen Doppelstockstössen davon. Der Läufer hinter ihm fluchte. Offensichtlich hat er etwas von Gonflers Stock abbekommen. «Selber Schuld!», dachte Gonfler und war froh, dass er dem hektischen Startprozedere ohne Materialschaden entkommen ist. Er lief ganz rechts auf der eisigen Spur, die um einen Zacken schneller war, als die weiter links. Vor ihm lief eine junge Dame in schneeweissem und nicht ganz blickdichtem Dress. Elegant beschleunigte sie im 2-1, fand einen lockeren Rhythmus und hatte zu Gonflers Freude eine ausgezeichnete Figur. Er erkor diese Gazelle als seinen persönlichen Schrittmacher und klebte sich förmlich an ihr Hinterteil. «Ein schöner Arsch», dachte er bei Tempo 30. Gonfler war einen Moment unachtsam, rutschte auf einer Eisplatte aus und wurde Sekunden später zum Fundament eines aus mindestens fünf Langläufern bestehenden Menschenhügels. Rundum wurde geflucht. Kraftwörter machten die Runde und das Knäuel aus Mensch, Ski und Stock wurde entwirrt. Gonfler blutete aus der Nase. Aber das war nicht sein grösstes Problem. Einer der beiden LEKI SUPER SHARK, gekauft für 398 Franken, war nur noch halb so lang. Auch das wäre verkraftbar gewesen, denn in weniger als einem Kilometer kam eine Station, bei der er defektes Material austauschen konnte. Was ihn wirklich störte war das Grinsen einer Person, die er schon vor Jahren aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte. Dieser JoBo zog locker an ihm vorbei und wünschte ihm viel Glück.


KM 5 – Sils Maria
JoBo beschleunigte und fühlte sich stärker als je zuvor. Dieser Gonfler hatte er fürs Erste abgehängt und der Ski lief ausgezeichnet. Viel schneller als geplant kam er vorwärts und überschätzte sich und seinen Trainingszustand grandios. Bei Kilometer 5 kam die Quittung postwendend. Es war nur ein kleiner Strassenübergang, der kaum einen Meter höher lag als die Loipe und kurz vor dem Rennen notdürftig mit Schnee bedeckt wurde. Der Schnee war knöcheltief und weich. Die geringe Höhendifferenz brachte JoBo aus dem Rhythmus und er brach ein wie ein baufälliges Haus bei einem Erdbeben. Links und Rechts zogen farbige Startnummern an ihm vorbei und JoBo verlor Rang um Rang. Er brauchte jetzt dringend einen Energieschub. Bis zur Verpflegungsstation Surlej waren es noch fünf endlos lange Kilometer im Gegenwind. Was nun?

Gonfler erhielt kurz nach dem Startgelände einen Ersatzstock. Da leider nur wenige Menschen so kleingewachsen waren wie er, war das viel zu schwere Teil zu allem Elend auch noch zu viel lang. Er konnte seine ausgefeilte Technik nicht ausspielen und musste mit dem zu langen Stock auf die Seite ausweichen, was auf den letzten drei Kilometern mindestens sechs Läufern zum Verhängnis wurde. Doch das war ihm ziemlich egal. Der Marathon war Kampf, der Marathon war Krieg!
Beim Strassenübergang in Sils – gleich hinter der KM 5 Tafel, sah er JoBo auf die Stöcke gestützt tief durchatmen. «Les jeunes sont deja fatigué!» Jetzt lachte Gonfler und er überholte JoBo mit Genuss.

KM 10 – Surlej-Silvaplana
Bei Kilometer 10 wurden die Teilnehmer daran erinnert, dass der Lauf nicht nur auf ebenem Terrain stattfand. Die Steigung nach Surlej war im doppelten Sinne brutal. Nicht nur der schnelle Rhythmus wurde gebrochen, auch die Schneebeschaffenheit veränderte sich schlagartig. Die schnelle Loipe wurde langsamer.

JoBo fand dank eines Red Bulls, das ihm ein Zuschauer zusteckte, wieder zu fast alter Frische zurück. Er lief kräfteschonend über die Seen Richtung Surlej und kam erstaunlich gut voran. Er glaubte ein paar Positionen weiter vorne den Anzug von Gonfler zu erkennen, war sich aber nicht ganz sicher. Im Moment hatte anderes Priorität. Nur keine zweite Krise, nur den Rhythmus nicht verlieren.

Gonfler blickte nach rechts. Da war er wieder der junge Copilot. Dieser JoBo schien zäher als erwartet. Ein Spurwechsel war unmöglich, die Teilnehmerschlange näherte sich der Schanze bei St. Moritz und dieser kurze Anstieg führte unweigerlich zum Stau. Doch Gonfler wusste sich zu helfen…

KM 12 – Schanzenaufstieg St, Moritz
Stau und Steigung. Dieses Hindernis war nur im Grätschschritt zu überwinden. Diszipliniert und dankbar für die kleine Verschnaufpause, reihten sich die Teilnehmer ein und bildeten vier Spuren, die sich ihren Weg nach oben suchten. JoBo war schon fast oben angekommen, als er lautes Fluchen hinter seinem Rücken vernahm. Einer der Teilnehmer hatte wohl die Geduld verloren, erklomm die Steigung mit kräftigen Doppelstockstössen und fuhr dabei hemmungslos über die Skispitzen der anderen Läufer hinweg. JoBo wunderte gar nichts mehr. Es konnte nur Jaques Gonfler sein.

KM 19 – Stazerwaldabfahrt
Eigentlich kein Problem diese Abfahrt. Dank des immer besser werdenden Materials konnte jeder halbwegs talentierte Skiläufer diese Schussfahrt mit Links meistern. Der Schnee war weich, die Bäume mit alten Matratzen gepolstert. Doch hie und da gab es Teilnehmer, die unkonzentriert, müde oder beides waren und im dümmsten Moment stürzten. Sehr zum Gaudi der zahlreichen Zuschauer und des Speakers, der jeden noch so kleinen Sturz mit seinen Sprüchen zum Ereignis machte. Das Humorfestival war nichts dagegen.

Gonfler war tief in der Hocke. Die Stöcke unter den Armen, den Blick unter der Sonnenbrille hervor. Elegant schoss er gegen Pontresina hinunter und überholte so manchen Konkurrenten, den er vorher hatte ziehen lassen müssen. Da war sie wieder, die Hübsche in ihrem weissen und nicht ganz blickdichten Anzug. Sie kurvte ebenso elegant wie Gonfler gegen den Talboden, war aber etwas langsamer. Gonfler zog etwas nach links, um die Holde zu überholen. Dabei übersah er einen Wurzelstock, der wegen des Schneemangels herausguckte. Die rechte Skispitze fädelte ein, Gonfler versuchte zu korrigieren, traf dabei mit dem linken Stock einen Teilnehmer am Schienbein und landete hart und spektakulär an einer Schlafunterlage aus dem Hause Happy. Der Speaker lief zu Hochform auf und die Zuschauer tobten. Ein Sanitäter eilte herbei und löste die Bindung, damit sich Jaques aufrichten konnte. Die Brille war gebrochen, die Nase auch, der geliehene Stock lag in vier Teilen auf dem Boden und Gonfler blutete. Auf der rechten Seite war sein dünnes Laufdress aufgerissen und auf der Haut erkannte man Schürfwunden. Am übelsten sah aber die Platzwunde am Kopf aus. Alles tat ihm weh, der Sanitäter machte sein G-A-B-I. Für jedermann war jetzt klar, dass für den Teilnehmer mit Startnummer 21245 der Engadiner hier zu Ende war – ausser für Jaques Gonfler. Als er JoBo vorbeibrettern sah, zog er schnell die Skis an, griff nach den intakten Stock und hinterliess im Schnee eine blutige Spur.

KM 21 – Pontresina
Ein Arzt nahm Gonfler aus dem Rennen. So weiterzulaufen war aus medizinischer Sicht unverantwortlich. Gonfler wurde trotz heftigem Protest in das Sanitätszelt gebracht und verarztet. Da ein Verdacht auf eine Hirnerschütterung bestand, wurde Gonfler die Startnummer abgenommen und erste Untersuchungen durchgeführt. Eine durchaus attraktive Krankenschwester nahm seinen Puls und verabreichte ihm ein starkes Schmerzmittel. «Er solle hier mindestens eine Stunde liegen bleiben», meinte der Arzt. Gonfler dachte nicht im Traum daran.

KM35 – Madulain
JoBo lief wie in Trance. Jeder Schritt schmerzte, jeder Stockeinsatz war eine Qual. Der Schnee wurde weicher und die Sonne brannte unbarmherzig auf die Teilnehmer herunter. Wo wohl Gonfler war, fragte sich JoBo und lief wie im Rausch weiter.

KM 40 – Golanhöhen
Die Stimme des Speaker war gut zu hören. Jeden Einlauf kommentierte er, als wäre derjenige gerade Olympiasieger geworden. JoBo fehlten noch zwei Kilometer, bis er endlich seinen Namen zu hören kriegte.

«Und jetzt im Ziel Jaques Gonfler aus Villars. Heja, heja.»

Der Alte hatte es also geschafft und ihn abgehängt. Diese Tatsache demoralisierte JoBo und raubte ihm die letzten Reserven. Mit allerletzter Kraft rettete er sich über die Ziellinie und brach zusammen.

KM 42 – das Ziel
«Und jetzt im Ziel Johannes Bohnenblust aus Eggiswil. Heja, heja.»

Seine Beine schmerzten, die Arme brannten. Um ein Haar hätte es sich vor Erschöpfung übergeben. Eine helfende Hand begleitete ihn aus dem Zielgelände und führte den erschöpften JoBo zu einer Sitzgelegenheit. Er gab eine himmeltraurige Figur ab, das war er sich bewusst. Zu allem Elend kam ihm auch noch der grinsende Gonfler entgegen. Etwas übel zugerichtet, aber bestens erholt.

Man gratulierte sich sportlich und Gonfler genoss seinen Triumpf.

Vier Stunden später
Endlich im Hotelzimmer. Endlich eine Dusche. JoBo legte sich vorsichtig auf das Bett. Jeder Knochen schmerzte, jede Sehne spannte. Er startete seinen Laptop auf und suchte unter den Rangierten seinen Namen. Rang 3451 – enttäuschend. Die Qualifikation für die Elite C im nächsten Jahr hatte er deutlich verpasst und die Zeit war blamabel. Er suchte nach den Resultaten seiner Freunden und Personen aus seinem Dorf. Als letzten gab er den Namen Gonfler ein. Dieser fehlte – ein Computerproblem?
Er surfte durch die Seiten des Veranstalters und betrachtete Bilder vom Tag. Er bewunderte die Sieger und bemitleidete die letzten, die mehr als doppelt solange benötigten wie er.

Als er den Computer ausschalten wollte, bemerkte er einen Link mit dem Titel «Disqualifikationen». Aus Neugierde klickte JoBo auf den Link.
Zuoberst auf der Linie stand der Name Gonfler.

«Hat eine Teilstrecke mit dem Auto absolviert», stand hinter Gonflers Namen. «Gesperrt bis 2015», eine Zeile darunter.

JoBo war froh, dass es im nächsten Jahr nicht zur Revanche kam. Diesen Wahnsinn will er sich nicht noch einmal antun!

3 Kommentare:

  1. Klasse geschrieben - Danke für die tolle Geschichte !

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  2. Obwohl die meisten Autoren ja autobiografische Erlebnisse vehement verneinen, schimmert hier vielleicht doch Selbsterlebtes mit? Ein ganz klein wenig zumindest...?

    M aka @Timezonedriver

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  3. Wenns vor dem PC brüllt und lacht, hat nicht JoBo, sondern ich mir vor Grölen in die Hose gemacht.

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