Montag, 23. April 2012

Das Ohr des Leaders Teil 1


Ein regnerischer Samstag im April. Kein Hund wollte nach draussen, keine Seele trieb sich vor dem Haus herum. Um der Langeweile zu entfliehen, suchten Mensch und Tier Zuflucht im Shopping Center in Spreitenbach. Die Anfahrt war mühsam, die Parkplatzsuche eine Qual.

JoBo kurvte von Stockwerk zu Stockwerk und suchte eine Lücke für seinen roten Golf V77. In Liftnähe war es aussichts-, in den hinteren Reihen hoffnungslos. Zwischen einem Mini Cooper und einem tiefergelegenen Traktor mit 450 PS sah er eine Lücke in der hinteren Reihe. Er wendete, schaltete in den Rückwärtsgang und zielte auf die vermeintliche Lücke zu. Der Parkplatz war frei, aber die beiden Wagen zu seiner rechten und linken standen so «schepps» im Parkfeld, dass selbst JoBo’s Golf keinen Platz fand. Der Hauptübeltäter war ein blauer Nissan unbekannten Typs mit einer verbeulten Fahrertüre und einem Wimpel vom FC Basel am Rückspiegel. Das war für den langjährigen FCZ-Fan des Guten zuviel. Er griff zu Papier und Schreiber und schrieb den Satz, den er zu diesem Anlass gerne zitierte, auf den Zettel, und klebte ihn unter den vorderen Scheibenwischer.

Zufrieden zog er von dannen, betrachtete das rollende Wrack noch einmal von hinten, memorisierte das Abziehbild auf der Rückseite und fragte sich, was «swissacta» wohl für eine Sekte sei. Macht ja nichts, wenn der Fahrer oder die Fahrerin religiös fanatisch veranlagt wäre, würde der Satz seine Wirkung gleich doppelt entfalten.

Als JoBo mit quietschen Reifen hinter dem Betonpfosten verschwand, flatterte der Zettel mit der Aufschrift: «Wenn sie so vögeln wie sie parkieren, dann kriegen sie nie einen rein!» im Luftzug der Klimaanlage.

Eine Viertelstunde später stand er vor dem Frischgemüse in der Migros. Vor ihm stand eine ältere Dame, die jeden Sellerie kritisch prüfte, in den Händen kreisen liess und dann wieder zurücklegte. Auch die Tomaten und der Salat schienen prüfenswert zu sein, denn sämtliche Kunden betatschten das Frischgemüse, als wären es die Titten der Geliebten. JoBo schauderte es, er wechselte in die Gefrierabteilung und legte sich tiefgefrorene Broccoli aus Kalifornien in den Einkaufswagen. Der Einkauf war an diesem verregneten Samstagnachmittag ein Spiessrutenlauf. Kinder rannten kreischend hin und her, Männer suchten ihre Frauen und die Frauen flüchteten vor ihren Männern. Dass an diesem Samstag auch noch doppelte Cumulus-Punkte gutgeschrieben wurden, entschärfte die Situation keineswegs. Aus der Brotabteilung roch es himmlisch. Marketingmässig schlau angebracht, buken die Helfer frische Brote inmitten der Verkaufsfläche und zogen so die hungrigen Mäuler an, wie der Speck die Maden. So auch JoBo.

Zwischen ihm und den frischen Hefezöpfen standen zwei Familien mit Ihren Schützlingen.
«Doch, doch – es geht schon viel besser. Der Karli hat mich angesteckt seit letzter Woche bringe ich den Husten kaum mehr weg. Jetzt haben ihn die Kinder auch. Etwas fiebrig sind sie, aber ich dachte, so ein Besuch im Shoppi kann nicht schaden.» «GESUNDHEIT! – Hand vor den Mund, wie oft soll ich dir das noch sagen?» «Nein, nicht diese Brot, das andere! Ist es auch frisch? Drück mal daran!» «GESUNDHEIT! – aber nein, jetzt hast du genau auf das frische Brot genossen! Leg es wieder zurück und nimm ein anderes! Ach diese Kinder, man hat es nicht einfach als Mutter heutzutage!»

JoBo ist der Appetit vergangen. Er machte rechtsumkehrt und kaufte in der Frischbackabteilung zwei Frischbackbrote, die laut Angaben auf der Verpackung in keimfreier Umgebung abgepackt wurden und durch ein besonderes Gas in der Verpackung geschützt sind.

In diesem Moment ging das Licht aus.

Für einen Moment war es mucksmäuschen Still. Aus der Brotabteilung erklang ein feuchtnasses Husten, aber sonst war kein Ton zu hören.

«Geschätzte Kundinnen und Kunden. Das ganze Einkaufszentrum ist von einem Stromausfall betroffen. Bitte verlassen sie umgehend den Laden und lassen sie alle noch nicht bezahlten Waren zurück. Zuwiderhandlungen gegen diese Aufforderung werden rechtlich verfolgt. Wir bitten um Verständnis.»

JoBo griff nach seinem iPhone und beleuchtete den Fluchtweg. Obwohl er den Weg nach draussen auch im Schlaf gefunden hätte, war er um die Lichtquelle froh. Überall standen Einkaufskörbe und Wagen herum und Kinder suchten schreiend nach ihren Eltern. Zwischen den Toilettenartikeln und der Tiernahrung legte JoBo eine Verschnaufpause ein und blickte auf sein iPhone. In der Mailbox hatte es eine neue Mail. Er drückte auf die entsprechende App und las mit erstaunen einen Satz, den er im ersten Moment gar nicht verstand: «The ear of the leader must ring with the voices of the people.»

Das Mail kam aus dem Chefpilotenbüro und das an einem Samstagnachmittag. Das musste wichtig sein. So lud er das beigelegte pdf-File herunter und setzte sich auf einen Karton voller Damenbinden, die eine Praktikantin in den nächsten Minuten hätte einräumen müssen.

«The ear of the leader must ring with the voices of the people.»

Täglich haben wir die Kolleginnen und Kollegen der Flugverkehrsleitung im Ohr und wundern uns, warum dies und das so gemacht wird. Der Gegenseite geht es genauso darum haben sich die beiden Organisationen darauf geeinigt, dass sich Piloten und Flugverkehrsleiter einen Tag lang bei der Arbeit zuschauen und falls möglich, Fragen und Unsicherheiten auf der Stelle klären. Aus der beiliegenden Tabelle entnehmen sie, wann und wo sie zum Observerdienst eingetragen sind.

Der Rest des Briefes bestand aus den gewohnten Durchhalteparolen. JoBo streckte die Beine aus, berührte dabei eine Tafel die Aktionen anpries und löste durch deren Sturz eine Kettenreaktion aus, die einen Turm aus hunderten gestapelten Toiletten-Papier-Rollen zum Einsturz brachte.
Er scrollte nach unten und fand die Tabelle mit den zugewiesenen Daten. Bohnenblust stand fast zuoberst auf der Liste und es verschlug ihm beim Anblick des Marschbefehls fast die Sprache. «Treffpunkt ACC Wangen bei Dübendorf, 05:15 Uhr vor dem Haupteingang.» Auch das noch – Frühdienst!

Wochen später war es soweit. Google Map berechnete von Weiningen bis nach Wangen eine Fahrzeit von 52 Minuten. Das dünkte JoBo etwas viel, aber er wusste aus Erfahrung, dass Google Map eher konservativ rechnete. So stellte er den Wecker auf 03:45 Uhr und schlief schnell ein.

Der Gubrist war frei, das Brüttiseller Kreuz auch. Um 04:30 Uhr, also eine dreiviertel Stunde zu früh, bog er auf das Gelände der Skyguide ein. Warum er dermassen zu früh eintraf, bemerkte er Minuten später. Ein Blick auf den Ausdruck von Google Map schaffte Klarheit, er gab Wangen an der Aare als Reiseziel ein, statt Wangen bei Dübendorf. Anfängerfehler, was soll’s. Der Parkplatz war gut besetzt, die Eingangstüre fest verriegelt. So lief er in diesen frühen Morgenstunden etwas hin und her und betrachtete die ordentlich parkierten Autos der Lotsen. Alles gepflegte Modelle mit Geschmack ausgewählt. Keine Protzkisten, aber solider Mittelstand. «swissacta», wo hatte er diesen Aufkleber nur schon gesehen? Fast auf jeder Karre war der Sticker zu finden, JoBo war das egal. Das Licht im Eingangsbereich wurde angeschaltet und die freundliche Dame des Empfangs lies den frierenden Piloten rein.

«Herr Bohnenblust der Pilot nehme ich an? Mein Name ist Mirella Meier. Bitte nehmen sie Platz. Die Kaffeemaschine steht hinter ihnen, bedienen sie sich ruhig. Sie sind heute im Ost-Sektor mit Frau Katharina von Sigriswil eingeteilt. Katharina kommt gerne etwas knapp, richten sie sich auf einen Spurt ein, wenn sie die Eingangstüre durchschreitet.»

Katharina von Sigriswil, was für ein Name! JoBo versuchte sich die Dame von Patriziergeschlecht vorzustellen. Schön war sie mit Bestimmtheit nicht, Jung sowieso nicht. Die Kaffeemaschine funktionierte mit Nespresso-Kapseln. JoBo entschied sich für den Indriya und bereitete sich einen doppelten Espresso zu.

«Frau Meier, sind eigentlich alle Lotsen streng gläubig?»
«Warum fragen sie?»
«Draussen stehen lauter Autos, die einen Sticker der Sekte «swissacta» angebracht haben.»

Mirella lachte laut auf. «Wenn sie gewisse Personen in der Geschäftsleitung fragen würden, ob es sich bei der «swissacta» um eine Sekte handle, ernteten sie mit Bestimmtheit grosse Zustimmung. Es handelt sich um die Vereinigung der Fluglotsen. Eine vernünftige, aber schlagkräftige Truppe.» JoBo hielt inne und versuchte sich daran zu erinnern, warum er sich für diese «swiss-dings-bums» interessierte. War nicht wichtig.

Draussen quietschte und rumpelte es. Unter einer dicken Staub und Rauchwolke kam ein alter Wagen zum Vorschein und eine attraktive Brünette stieg aus und raste auf den Eingang zu.

«Machen sie sich auf die Verfolgung Herr Bohnenblust, das ist ihre Chefin am heutigen Tag.» Mirella Meier lachte und sah das Blinzeln in den Augen des jungen Kurzstreckenkapitäns. Frau von Sigriswil und Herr Bohnenblust schienen sich zu verstehen.

JoBo betrat den Raum mit leichter Ehrfurcht. Hier sassen sie also, die Frauen und Männer, die ihm Tag für Tag sagten, wie er den Airbus zu fliegen habe. Die Stimmung war gelöst, die Leute locker gekleidet. Kaum einer der Männer war rasiert, die meisten hatten eine dampfende Tasse Kaffee vor sich auf dem grossen Pult. Ein Funkspruch ist noch keiner gefallen, die Maschinen warteten noch im AMIKI Holding auf die Freigabe zum Anflug. Es herrschte noch Nachtsperre im Zürich, der Anflug OST sass noch in den Startlöchern.

«Neulich flog ich Zürich als erster an und irgend so ein Idiot vergass doch tatsächlich die ILS einzuschalten.» JoBo versuchte mit Witz und Humor auf sich aufmerksam zu machen. «Neulich sass ich im Turm und irgend so ein Piloten-Idiot versuchte bei den Geschwindigkeitsvorgaben zu schummeln. Hat ihn 10 Minuten und 800 Kilogramm Kerosin gekostet.»
Dieses Votum kam aus der hinteren Ecke und war nicht zur Auflockerung der Stimmung gedacht.
«Wenn du heute Nachmittag das Gebäude ohne Kaffeefleck auf deinem weissen Hemd verlassen willst, halte besser die Klappe.»
Katharina wirkte plötzlich konzentrierter und begann die Punkte auf dem Bildschirm herum zu dirigieren.

«Thai 978 turn right heading 320, descent to FL80 and reduce to 180 knots.»
«Screw 122 descent to 7000ft, QNH 1011. Report your speed!»
«I told you to maintain 210 knots, turn right HDG 310 and reduce to 170 knots.»
«Dass ihr Idioten der Screw euch nie an die Geschwindigkeitsvorgaben halten könnt.»
«Negative, you’re not number one for approach, you’re number three in sequence and if you’re not maintaining 170 knots, you become sooner or later number five.»
«DELTA ECHO HOTEL INDIA PAPA – remain outside CTR ZRH, turn left HDG 170 and climb at least to 10500 feets, there are mountains ahead!»
«Auch das noch, ein Piper aus dem Schwabenland!»

So ging das weiter die nächste halbe Stunde. JoBo verlor bereits nach fünf Minuten die Übersicht und hätte in dieser ersten Schicht als Lotse ein Chaos angerichtet. Er war froh, als Katharina des Mikro abgab und ihn in den Pausenraum schleppte.
«Hat das Pilötchen wenigstens Schokoladen mitgebracht?», fragte ein Kollege Katharinas beim vorbeigehen. JoBo hatte nicht.

«Sag mal Katharina, du bist Bernerin, redest so schnell wie eine Miss Schweiz aus dem Thurgau und fährst Auto wie ein Rennfahrer auf der Cardbahn...»

«... und parkieren kann ich auch nicht, neulich hat mir so ein Idiot im Shoppi Spreitenbach… »

JoBo fielen die Schuppen von den Augen. Da lag Ärger in der Luft.


Fortsetzung folgt!

3 Kommentare:

  1. Oh, das wird noch interessant.
    Tolle Geschichte1

    AntwortenLöschen
  2. Wenigstens hatte JoBo keine Schoggi dabei! Wäre ja noch schöner, wenn wiir jeden in die Schoggi Connection aufnehmen müssten...

    AntwortenLöschen
  3. Und sowas lässt man auf die Leute los - kann nicht mal Wangen von Wangen unterscheiden. Mit SCREW werde ich nie fliegen!

    Ich freue mich schon auf die Fortsetzung.

    AntwortenLöschen